Der Kubismus im Hinterhof
Wenn von der Betlehemskapelle die Rede ist, dann denken die meisten an das rekonstruierte
Nationalheiligtum in der Prager Altstadt, wo einst MagisterJan Hus das Wort Gottes verkündete.
Aber auch der Stadtteil Žižkov, der sich durch unzählige Straßennamen stolz zur hussitischen
Tradition bekennt,hat seine Betlehemskapelle - bescheiden versteckt inmitten eines Blocks von
Pawlatschenhäusern.
Die Anfänge der evangelischen Kirche in Žižkov waren bescheiden. Zunächst versammelten sich
die Gemeindeglieder in Wohnungen, bis im Jahr 1904 der erste Gemeindesaal in der Husinecká
Straße eingeweiht werden konnte. Doch der Besitzer des Hauses verhielt sich schon zur dama-
ligen Zeit durchaus marktbewußt. Statt der wenig vermögenden Kirchengemeinde dachte er zuerst
an die Eröffnung einer Kneipe und schließlich tat er sich mit dem Kinematografie-Unternehmer
Moravec zusammen, der aus dem Gemeindesaal das Kino Edison machte. Die Evangelischen entschlos-
sen sich mit dem wenigen zur Verfügung stehenden Kapital ein normales Haus in der Prokopstraße
zu erwerben. Die Prokopova war die damals noch zu beiden Seiten durch Baumreihen eingefaßte
Hauptstraße von Žižkov, hier verlief auch eine Linie der elektrischen Straßenbahn.
Zum Haus gehörte eine geräumiges Grundstück, auf dem einst Kies für die umliegenden Baustellen
gefördert wurde. Die Kiesgrube, zugeschüttet mit Bauschutt aus der Sanierung des Prager
Judenviertels erschien als ein geeigneter Ort für die Errichtung eines Gemeindehauses mit einer
Kapelle und Wohnungen. Nach der Unterzeichnung des Vertrags mit dem Metzger Poupa im Jahr 1912
blieben zwei Probleme zu klären: ein technisches und ein rechtliches. Mit dem ersteren wurde
die Karolinentaler Baufirma Blecha spielend fertig: Sie schlug vor, unter das Baufundament
eine Zementplatte zu verlegen, damit die Mauern der Kapelle nicht in den aufgeschütteten Grund
einsinken. Schwieriger war es mit den Nachbarn, die gegen die Bebauung des Innenhofes
protestierten und die Klage bis zur höchsten Instanz verfolgten. Die Behörden genehmigten den
Bau schließlich, allerdings in begrenztem Umfang, ohne Wohnungen - diese entstanden erst im
Jahr 1928 durch Aufstockung des Vorderhauses.
Die Firma Blecha vergab die Ausarbeitung des Projektes an den jungen Architekten Emil Králíček,
der schon zuvor durch einige Entwürfe (zB. das Haus Diamant in der Prager Neustadt, Ecke Spále-
ná - Lazarská) auf sich aufmerksam gemacht hatte. Mit der Anwendung des kubistischen Formenstils
auf einen Sakralbau stand die Betlehemskapelle weltweit einzigartig da. Nur im mittelböhmischen
Pečky ist später noch ein vergleichbarer Bau - ebenfalls eine evangelische Kirche - entstanden.
In den Folgejahren kam es zwar zu einigen kleineren Um- und Anbauten, aber am Erscheinungsbild
der Kapelle hat sich im wesentlichen nichts mehr geändert.
Die ursprüngliche einzigartige kubistische Gestaltung des Innenraums wurde nach der Rekonstruk-
tion im Jahr 1992 durch eine neue Wandbemalung angemessen unterstrichen. Sie wurde von Schülern
der Kunstgewerbeschule Žižkov unter Anleitung von Professor Pavel Novák durchgeführt. Zu einem
gewissen Abschluß kam die bauliche Entwicklung im Jahr 1938 durch den Anbau einer Sakristei,
genannt "Schweizerischer Saal", sowie eines Glockenturms nach dem Entwurf des Architekten Bohu-
mil Kozák. Die Glocke, eine Spende der evangelisch-reformierten Gemeinde im schweizerischen
Balgach, läutete zum ersten Mal im Juni 1938.
An die Opfer der deutschen Besatzung erinnert eine Gedenktafel im Eingangsraum der Kapelle. Die
Familie Fafek, die mutig die Heydrich-Attentäter unterstützt hatte, wurde vollständig ermordet.
Noch während des Prager Aufstandes im Mai 1945 beschossen die Faschisten, die sich auf dem
Veitsberg verschanzt hatten, den Stadtteil. Das oberste Stockwerk des Gemeindehauses, das die
umliegenden Gebäude weit überragte, wurde von einer Granate getroffen, die ein großes Loch in
die Außenwand riß.
Nach dem Krieg war die Kapelle im Zuge der großangelegten Stadtteilsanierung lange Zeit ernst-
haft vom Abriß bedroht. Nur dank des unermüdlichen Einsatzes des damaligen Gemeindepfarrers
František Potměšil gelang es schließlich, die politischen Entscheidungsträger von ihrer kunst-
geschichtlichen Bedeutung zu überzeugen, und im Jahr 1975 wurde die Kapelle unter Denkmalschutz
gestellt.
Marek Krejčí